Sibylle Lewitscharoff und Hanns Zischler mit Consummatus in der Feuerwache

10. März 2008 | Von | Kategorie: Literaturveranstaltungen

Lewitscharoff: ConsummatusStuttgart, Samstag 3. April 2004. Ralph Zimmermann sitzt im Cafe Rösler, leert zu viele Gläser Wodka, während Stationen seines Lebens Revue passieren – Tod der Eltern, Kindheit, vor allem die fatale Liebe zu einer Underground-Sängerin, mit der er bis zu ihrem Tod einige Monate lang durch Europa kreuzte. So knapp könnte man den Inhalt des Romans von Sibylle Lewitscharoff zusammenfassen; wäre da nicht noch etwas Besonderes außer dichtem Schneetreiben, das die ganze Stadt allmählich in eine weiße Decke einhüllt.

Die “pathetische Lebensbeichte und große Totenklage” eines modernen Orpheus mit Nahtoderfahrung nennt es Richard Kämmerling in der FAZ. Beatrice von Matt erkennt in der NNZ die Szene des sinnierenden Trinkers im Cafe als das Ur-Motiv der Literatur überhaupt, die Wiedererweckung der Toten. Sie trifft damit den Kern von Lewitscharoffs Motiv. Schon immer habe sie sich zu Literatur hingezogen gefühlt, die sich mit dem Dialog mit dem Tod und den Toten beschäftigt, verriet sie ihren Zuhörern in der Feuerwache gleich zu Beginn. Zu den Toten, die mit Zimmermann im Cafe Rösler in Dialog treten, gehören nicht nur seine Eltern auch Jim Morrison, Andy Warhol und Edie Sedgwick begegnen ihm im Gefolge seiner einstigen Geliebten Joey, einer Mischung aus Eurydike und Nico. Zimmermann beklagt seine Toten nicht nur, er fühlt sich mitschuldig an ihrem Tod. Seine Geliebte hat er überfahren und die Eltern nicht von den Qualitäten des Wolfgangsees überzeugen können, so sind sie während eines Kenia-Urlaubes bei einem Flugzeuabsturz ums Leben gekommen. Lewitscharoff spinnt ein dichtes Netz literarischer und musikalischer Bezüge von den Texten Jim Morrisons zu Stefan George und Else Laske-Schüler, von Velvet Underground zu Marika Röck..

Zur Lesung in der Feuerwache am 6. März 2008 hatte sich Lewitscharoff Hanns Zischler als Partner auserkoren; ein Glücksgriff für den Abend und den Text. Sie selbst las die eher abstrakteren Passagen, während Zischler den Part Zimmermanns und die Rolle der Toten übernahm. Im ersten Teil des Abends überzeugten Zimmermanns Traumphasen, in denen der nächtliche Neckar zum Totenfluß wird und Andy Warhol im Nachen den Dilsberg umschifft sowie der Dialog mit der Geliebten. Der zweite Teil gehörte Zimmermanns Kindheit und den Eltern. Die Auswahl der Textpassagen erfolgte mit sicherem Gespür für die schönsten Passagen des Romans. Zischler erwies sich einmal mehr als kongenialer Vorleser und Schauspieler. Er brachte Lewitscharoffs multiperspektivische Erzählweise erst voll zur Geltung. Im gedruckten Text erscheint Zimmermanns Part und die reale Welt in normaler Schrift, während für die Stimmen der Toten ein abgesetztes, »elegantes Grau« gewählt wurde. Gegen Ende des Buches tauchen auch auf dem Papier immer dichter werdende Schneekristalle auf. Die typographische Gestaltung des Textes ergab sich nach Auskunft von Lewitscharoff durch Experimentieren schon während des Schreibprozesses.

»Etwa familiäre sechzig Leute«, so drückte es eine Zuhörerin aus, dürften es an diesem Abend in der Feuerwache gewesen sein. Sibylle Lewitscharoff, studierte Religionwissenschaftlerin und Bachmannpreisträgerin des Jahres 1998, gehört leider immer noch zu den eher unbekannteren Gesichtern des Literaturbetriebes. Das Motto des Literaturfestivals »lesen.hören« kann für diesen Abend getrost umgekehrt werden – erst hören, dann lesen. »Wenn die Literaturfähigkeit einer Gesellschaft erlischt, erlischt auch ihre Gedächtnisfähigkeit.« betonte Lewitscharoff gegen Ende des Gesprächs mit den Zuhörern. Dass dies nicht so schnell geschieht, dafür sorgten Lewitscharoff selbst, Hanns Zischler und auch die Veranstalter von »lesen.hören« an diesem Abend in beeindruckender Weise.

Beim »Literaturport« kann Kapitel 1+2 von Consummatus von Lewitscharoff gelesenheruntergeladen werden, Spielzeit: 23:25 Größe: 24 MB

Sibylle Lewitscharoff: Consummatus. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006 ISBN 3421055963 Gebunden, 240 Seiten
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Sibylle Lewitscharoff: Montgomery. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003, ISBN 3421056803, Gebunden, 347 Seiten
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Sibylle Lewitscharoff: Pong. Roman. Berlin-Verl..Berlin 1998 ISBN: 3-8270-0285-0 Gebunden 143 Seiten=

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