Bücherverbrennung in der Hafenstraße 35

9. Mai 2012 | Von | Kategorie: Dies u. das

Hafenstr. 35, Stadtteil Jungbusch, Mannheim

Hafenstr. 35, Stadtteil Jungbusch, Mannheim Foto (c) Heike Pfitzenmeier, Studentenwerk Mannheim

In exponierter Lage, direkt am Verbindungskanal Hafenstraße 35-45, liegt die Wohnanlage des Studentenwerks Mannheim, die einem Dreimaster nachempfunden ist. Das Umfeld ist außergewöhnlich: an der Schnittstelle Hafen und Innenstadt mit Blick auf die neue Hafenpromenade, flankiert von Popakademie und Musikpark, im multikulturellen Stadtteil Jungbusch, der gerade eine spannende Renaissance erlebt.
Früher stand an dieser Stelle ein altes Jugendstilhaus, das in Fanny Morweisers Roman »Un joli garçon« eine entscheidende Rolle spielt und eine studentische WG beherbergte.

***

»Paul und Charlotte sind unten, sie machen ein Feuer mit einem Teil ihrer Bücher und Papiere, die sie nicht mehr brauchen.«
»Ein Freudenfeuer«, sagte Ewald.
»Sieht so aus. Keiner hat geglaubt, dass die beiden jemals [mit ihrem Studium] fertig werden.« [ … ]
Der Schmetterling war fertig [tätowiert], und im Hof brannte das Feuer lichterloh. Einmal hörten sie einen empörten Ausruf von Paul: »Du verbrennst die Ulla Berkéwicz?«
»Ja«, kreischte Charlotte.
»Aber warum denn nur? Sie ist so schön.«
»Und das reicht? Das reicht bei euch Idioten? Hast du es denn gelesen, soll ich es noch mal für dich raus holen, den Josef, der stirbt?«
»Nein, aber was soll denn so falsch daran sein?«
»Alles«; kreischte Charlotte. »Alles. Da kommt eine von außen, die sich vorher kaum hat blicken lassen, und heimst alles an Gefühlen für sich ein. Und die Mutter steht stumm und breit am Herd und kocht die Nachtsuppe.«
»Zitat?«
»Zitat. Ja. Aber die tut wenigstens was, verstehst Du, während die schöne Hereingeschneite nur fühlt. Suppe kochen … nein danke. Und dann der Schluss. Sie steht am Fenster und unten fährt der Leichenwagen weg und sie winkt. Und, Paul, stell dir das mal vor, keiner winkt zurück.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich, du Idiot. Wie roh, wie roh, keiner winkt zurück. Aber wohin um Himmels willen fahren die denn? Auf den Friedhof oder nach Mallorca?«
Pauls Stimme wurde leiser, aber er gab noch nicht auf.
»Hilde Domin hat, nachdem sie das Buch gelesen hatte, bei den Eltern dieser Berkéwicz angerufen, weil sie von der Lektüre restlos hin war.«
»Hilde Domin«, schrie Charlotte, und jetzt fuhr sogar Willi zusammen, soviel Wut war in ihrer Stimme. »Weißt du, dass sie ihren neunzigsten Geburtstag zweimal hat feiern lassen, weil sie angeblich irgendwelche Daten durcheinandergebracht hat? Und das doch nur, damit der Affe doppelt Zucker kriegt.«
Danach war nichts mehr zu hören, nur das Klatschen diverser Bücher, die mit aller Macht in die Flammen geworfen wurden.

Auszug aus: Fanny Morweiser »Un joli garçon« Diogenes 2003 S. 105/106

»Un joli garçon« zählt für mich zu den schönsten Romanen, die in Mannheim spielen und natürlich auch im Maudacher Bruch. Die Autorin hat mehr Farben auf der Palette als Blut und Grauen, nämlich Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Morweisers Erzählungen spielen sich in aller Stille, in schönen Landschaften, in alten Häusern, gelegentlich bei lieben älteren Damen ab – und dies soviel gefährlicher als bei Agatha Christie.

Foto mit freundlichem Genehmigung von: Heike Pfitzenmeier, Studentenwerk Mannheim

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