Die Erde würde ohne uns Menschen auch ganz gut laufen, meinte der scharfzüngige Wolfgang Neuss. Und manchmal denke ich, das gilt auch für den Literaturbetrieb, der Literatur eigentlich gar nicht braucht. Die Puzzleteilchen der Branche lassen sich gewinnbringend zu immer neuen Mustern zusammensetzen, ohne dass wirklich Neues nötig wäre. Festivals, Preiskarusselle, Interviews, Hit- und Hotlisten, Talkshows, Starfotos von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die sich für Hochglanzmagazine eignen, mit den passenden Homestorys – das reicht, um den Betrieb am Laufen zu halten.
Nachdenken? Nachsinnen? Einen Schritt beiseitetreten? Das Feld räumen? Aufräumen? Von wegen. Das Leben, zumal das literarische, ist eine Achterbahn.
Jeden Donnerstag, wenn ich das Börsenblatt aus dem Kasten ziehe, weiß ich schon, welche Gefühle mich erregen werden, wenn ich es durchblättere. Ist das noch meine Branche? Habe ich einen Verlag gegründet, um dabei mitzutun? Ich sehe meine Autorinnen und Autoren vor mir – sie eignen sich zu alledem nicht. Diejenigen, die nicht mehr leben, schon gar nicht. Zu ernsthaft, zu selbstständig, zu wenig marktgerecht, waren bzw. sind sie nie an den richtigen Orten, um einschlägige Kontakte zu knüpfen. Alle Voraussetzungen für den Beruf des Adabeis fehlen ihnen. Manche leben im Ausland und sind in Deutschland schwer unterzubringen.
Die aggressive Vermarktung von Literatur mag über den Atlantik zu uns herübergeschwappt sein. Schon Vicky Baum wusste davon ein Lied zu singen. Trotzdem liebe ich die Literaturkritiker der New York Times. Man erfährt tatsächlich etwas über die besprochenen Bücher und deren Verfasser und relativ wenig über die Scribenten der Rezension. Hierzulande überwuchert die Kritik oft die Produktion. Und so erfreulich die Existenz zahlreicher Literaturpreise und -stipendien ist, zeitigen sie so etwas wie eine Förderliteratur, deren gemeinsames Merkmal … nun, lassen wir das.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass der blutige Aderlass von 1933 Gräben hinterließ, die immer noch spürbar sind. Ermordung und Vertreibung töteten auch eine Tradition kritisch gepflegter Sprache. Die Exilliteratur ist die letzte Tranche der deutschsprachigen Klassik. Stellen Sie sich Walter Benjamin oder Georg Hermann auf einem der heute üblichen Mega-Events vor. Sie würden nicht anreisen, glaube ich, obwohl Heinrich Mann es zu seinen schönsten Vorlese-Erlebnissen zählte, in einem großen Berliner Kaufhaus während der Geschäftszeit aufzutreten. Immerhin gibt es auch bei toten Autoren jener Epoche unverhoffte, durchaus erfolgreiche Wiederbelebungsversuche. Der Impuls dazu geht oft von einem anderen Land aus, so geschehen bei „Alone in Berlin“ von Fallada.
Es ist nicht nur die Qualität der heute gepushten, übermorgen vergessenen Bestseller, die mich vor den Kopf schlägt, sondern auch die schiere Quantität. Würden sich alle Verlage auf drei Titel im Jahr beschränken, könnten wir diese Produktion zur Kenntnis nehmen. Aber so? Muss es denn so viel sein? Verdauen wir Kaviar und Sahne in Kiloportionen? Oder nur dünne Suppen und Pommes?
Mein verlegerisches Über-Ich quält mich mit Vorwürfen. Tatsache ist, dass ich in diesem Jahr keinen neuen Titel verlege. Es gibt eine Produktionspause. Nicht nur Geldsorgen haben diesen Entschluss befördert. Ich habe keinen Titel gefunden, bei dem es gekribbelt hätte. Und kribbeln muss es. Wenn schon keine Aussichten bestehen, mit einer Neuerscheinung, einer übersetzten zumal, in absehbarer Zeit schwarze Zahlen zu erreichen, muss es wenigstens ein Buch sein, für das mein Herz schlägt. Apropos Lizenzen: Auch dieser Markt wuchert. Es grenzt an Wahnsinn, was manche Agenturen verlangen. Aber wenn man bedenkt, dass bei marktkonformen Titeln lukrative Zweit- und Drittvermarktungen winken, sind diese Preise leider gerechtfertigt. TV-Filme, Serien, Kinofilme, Unterlizenzen aller Art sowie das ganze Merchandising: Benjamins Deutsche Menschen als Plüschgestalten, Jettchen Gebert als Anziehpuppe oder virtuelle Person im interaktiven Spiel.
Die Zunahme von Graphic Novels deutet darauf hin, dass eine gewisse Übersättigung am allzu Bunten eingetreten ist. Gothic- und Fantasytitel dagegen verlangen knallige Cover und die entsprechende Werbung. Auch die Vorschauen werden immer opulenter und erinnern an Lifestyle-Werbeprospekte. Seit Jahren haben wir uns an die Heerscharen von Manga-Kostümierten auf den Buchmessen gewöhnt. Ein urliterarisches Erlebnis. Laut Statistik ist allerdings der Marktanteil dessen, was wir Literatur nennen, am Buchverkauf verschwindend gering. Überhaupt Messen: Warum dürfen wir nicht verkaufen? Angesichts einer Buchhändlerin, die mir allen Ernstes erklärt, wenn sie einen Titel bei Amazon nicht findet, sei der nicht lieferbar? VLB – ein Fremdwort. Auf die Idee, beim Verlag nachzufragen, ist sie nicht gekommen. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Da hilft nur noch schottischer Whisky.
Die Backlist war früher der Kronschatz der Verlage, unser Rückgrat. Heute bricht sie uns in Form der Lagerkosten das Genick, denn so gut wie niemand möchte ein altes Buch bestellen. Alt, das bedeutet: keine Neuerscheinung. Neu heißt: ein bis drei Monate alt. Auch in den Feuilletons gilt ein Titel als alt, wenn er in der vorangegangenen Saison erschienen ist. Erst gab es leider keinen Platz, ihn vorzustellen, dann ist er zu alt. Was der Buchhandel liebt, heißt „Schnelldreher“. Heute rein, morgen raus. Die Beziehung zwischen Kunst und Kommerz gehört zu den unerforschlichsten. Ich grüble viel darüber nach und komme zu keinem Ende. Die übliche Paartherapie greift hier nicht.
Ob das E-Book uns glücklich macht? Ich hege starke Bedenken, was passiert, wenn mir der Kindle in die Badewanne fällt. Oder sich beim Schmökern im Bett der Akku entleert. Da bleibt dann nur die Meditation über den leeren Bildschirm. Non-Books sind ohnehin der Renner!
Georg Hermann unterschied zwischen Büchern, die uns etwas geben, und solchen, die nur interessieren. Wann hast Du zuletzt ein Buch gelesen, dass Dir etwas gab? Du kannst es mehrfach lesen, Du wirst immer neue Seiten an ihm entdecken. War es bloß interessant, wirst Du es weiterverschenken oder ihm einen Platz auf einer Parkbank zuweisen.
Ich mache jetzt einen Spaziergang und denke über rätselhafte Gedichtzeilen von Josef Brodski nach. Sie beschäftigen mich übrigens schon eine ganze Weile. Man kann sie wie eine Murmel hin- und herwenden und immer leuchten sie ein bisschen anders. Mehr Leuchten wär schön. Licht, zumal Blitzlicht, haben wir ja genug im Literaturbetrieb.
© Lisette Buchholz, persona verlag
zuerst veröffentlicht bei »lesenleben.de« dem Blog von Gesine von Prittwitz
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